Porträt einer Wölfin

Die Wölfin F07 hat die Schweiz für immer verändert. 150 Jahre nach der Ausrottung des Wolfs, gründet sie das erste Rudel. Sie bringt in ihrem Leben 46 Welpen zur Welt. Nun ist sie im hohen Alter von 14 Jahren erlegt worden. 

Ein Fotofalle schiesst an der Flanke der Calanda eines der letzten Bilder der Wölfin F07 (links). Bild: Amt für Jagd und Fischerei, Graubünden
Ein Fotofalle schiesst an der Flanke der Calanda eines der letzten Bilder der Wölfin F07 (links). Bild: Amt für Jagd und Fischerei, Graubünden

Der Name «F07» ist wenig schmeichelhaft und erinnert vielmehr an die Bezeichnung eines Kampfjets als an eine Wölfin, die in der Schweiz ein richtiggehender Medienstar war. Nun also ist F07 tot. Zeit für eine Würdigung eines aussergewöhnlichen Wildtiers.

 

Ihre Geschichte beginnt im schleierhaften Nebel. Vermutlich kam sie aus Italien und hat irgendwo zwischen dem Grossen St. Bernhard und Gondo die Schweizer Grenze überquert. Ihre erste eindeutige Spur hinterlässt sie am 11. Juni 2011 im Saastal im Oberwallis. Oberhalb von Staldenried reisst sie ein Schaf.

 

Im Kadaver hinterlässt sie etwas Speichel. Von diesem wird ein genetischer Fingerabdruck erstellt. Demnach ist sie ein Weibchen, eine «Female» also ein «F» und die siebte Wölfin, die seit der Ausrottung der Tierart auf Schweizer Boden auftaucht.

 

Ihre Vorgängerinnen, F01 bis F06, haben keine nennenswerte Geschichte geschrieben. Sie sind herumgestreunt und wieder verschwunden. Was F07 von ihnen unterscheidet ist ihre Begleitung. An ihrer Seite hat sie den Rüden M30. Die beiden lassen sich im Herbst 2011 am Calandamassiv nieder und beginnen mit der Familienplanung. Der Ort ist ideal: Es gibt einen grossen Bestand an Hirschen, Rehen und Gämsen, also Frischfleisch. Zudem ist das Terrain für Menschen nur schwer zugänglich. Besser kann ein Liebesnest nicht sein. Ein Jahr später sind die ersten Welpen da. Es ist ein Meilenstein in der Schweizer Naturgeschichte: Das erste Rudel seit 150 Jahren. 


«Für viele Leute ist der Wolf in der Schweiz eine ökologische Erfolgsgeschichte.»


Der Zeitpunkt dafür könnte nicht idealer sein. Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2011 bis 2020 zur UN-Dekade für die Biodiversität erklärt. Naturförderung in allen Facetten ist Trumpf. In der Schweiz spriessen allenthalben Blühstreifen, Buntbrachen, Bienenweiden und Dachbegrünungen. Dass wir nun auch wieder ein Wolfsrudel beherbergen, ist das haarige Tüpfelchen auf dem I. «Für viele Leute war das eine ökologische Erfolgsgeschichte», sagt Elisa Frank vom Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Sie hat sich mit der Rückkehr des Wolfs als kulturellen Prozess auseinandergesetzt. «Das Calanda-Rudel löste bei vielen ein Gefühl von Freude und Hoffnung aus.» 

 

Die Familie von F07 und M30 wird zu einem Medienphänomen und bekommt das Label «Calanda-Rudel»: Das Calanda-Rudel reisst ein Schaf, ein Jungwolf aus dem Calanda-Rudel taucht im Dorf auf, eine Wölfin aus dem Calanda-Rudel besucht den Kanton Glarus. Es tönt fast wie die Berichterstattung über die Kardashians. «Die Schweizer Medien rapportierten sogar, als ein Calanda-Wolf im Ausland unter ein Auto kam», sagt Frank.

 

In der Folge beginnen Interessengruppen den Medienhype auszunutzen. «Der Wolf wurde zu einem Scheinwerfer, der unseren Blick auf Probleme lenkt, für die sich sonst niemand interessiert», sagt Frank. Förster machen so erfolgreich auf den Baumartenausfall durch Wildverbiss aufmerksam. Sie befürworten den Wolf, weil er das Wild reguliert und so die Waldverjüngung fördert. Bergbauern wollen den Wolf eher loswerden. Denn ihnen werden nun Herdenschutzhunde und Elektrozäune aufgebrummt. Natürlich wollen auch die Politiker ein Stück von der Aufmerksamkeit. Während des Wahlkampfs zu den Nationalratswalen 2015 versuchen sich Walliser Politiker regelrecht darin zu überbieten, wer den Wolf zuerst wieder ausrottet.

 

Insgesamt bleibt die Schweiz bei der Wolfsfrage zwischen Mittelland und Bergkantonen gespalten. Das zeigt die Abstimmung über die Revision des Jagdgesetzes 2020. Die Revision hätte es den Kantonen erlaubt, Wölfe auch vorbeugend zum Abschuss freizugeben; also bevor sie sich an Nutztieren vergreifen. Die Bevölkerung ist auf der Seite des Wolfs und lehnt die Vorlage mit einer knappen Mehrheit ab. Eins zu null für F07.

Am Calanda-Massiv entsteht das erste Wolfsrudel der Schweiz seit 150 Jahren. Bild: Adobe Stock
Am Calanda-Massiv entsteht das erste Wolfsrudel der Schweiz seit 150 Jahren. Bild: Adobe Stock

Ihre Familie gedeiht inzwischen prächtig. Sie bringt über die Jahre insgesamt 46 Welpen zur Welt. «Das ist Rekord in der Schweiz», sagt Ralph Manz von der Stiftung Raubtierökologie und Wildtiermanagement KORA. Er ist dort Mitarbeiter im Wolfsmonitoring. «Vier ihrer Töchter gründen weitere Rudel in der Nähe. Unter anderem am Bergrücken Stagias in Graubünden und am Kärpf in den Glarner Alpen.»

 

Nicht alle haben Glück. Die Tochter F33, Begründerin des Rudels Ringelspitz, wird bei Revierkämpfen mit einem benachbarten Rudel totgebissen. Das tönt hart, ist im Leben eines Wolfs aber normal. «Solche aggressive Interaktionen dienen der Verteidigung des eigenen Territoriums», sagt Gabriele Cozzi, Leiter der Forschungsgruppe für Wildtier Bewegungsökologie an der Universität Zürich. «Es ist nicht ungewöhnlich, dass bei diesen Kämpfen einzelne Tiere schwer verletzt oder sogar getötet werden.» 

 

2019 wirft F07 zum letzten Mal. Eigentlich könnte sie bis zu ihrem Lebensende Junge kriegen. Aber offenbar ist ihrem Partner etwas zugestossen. Sein letzter genetischer Nachweis erfolgt 2020 in Pfäfers. «Sein Schicksal ist unbekannt», sagt Manz.

 

Im Januar dieses Jahres kriegt der Naturfotograf Patrick Lüscher F07 zufällig vor die Linse. Die Begegnung findet auf einer Sandbank am Rhein nördlich von Untervaz statt: «Sie lief mit etwa zwanzig Meter Abstand ohne grosse Eile ganz selbstverständlich an uns vorbei. Um ihren Weg fortzusetzen, sprang sie in einen seichten Seitenarm des Rheins, schüttelte sich rasch und lief im gleichmässigen Schritt weiter. Nur wenige Sekunden später verschwand sie aus unserem Sichtfeld.»

 

Ihre Leichtfüssigkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass F07 mit ihren nunmehr mindestens 14 Jahren das Greisenalter erreicht hat. Sie ist am Ende ihrer Kräfte. Ihre Gelenke sind von den Tausenden von zurückgelegten Kilometern verschliessen. «So alte Tiere haben meist Arthrose und Arthritis. In dieser Verfassung werden sie irgendwann unfähig sich selbst zu ernähren. Schliesslich sterben sie an Hunger oder an einer Verletzung, die sie sich bei wehrhaften Hirschen zuziehen», sagt Manz. 

 

Der Hunger ist vermutlich der Grund, warum sie sich Anfang August auf der Talsohle nahe Haldenstein herumtreibt. Es ist eine Verzweiflungstat. Vielleicht hofft sie, einen Mülleimer mit Essenresten zu finden. Sie trifft auf mehrere Spaziergänger. Diese verständigen die Wildhut, als F07 nicht wie sonst üblich beim Anblick des Menschen innert Augenblicken das Weite sucht.


Der Tod kommt als Gewehrkugel: Adieu, Grande Dame der Auen und Matten und der Gletscher so rot.


Der Wildhüter spürt F07 am heissen Montagabend des 14. Augusts auf. Über die genauen Umstände schweigt sich der Kanton Graubünden aus. Der Tod kommt in Form einer Gewehrkugel, soviel ist bekannt. Adieu, Grande Dame der Auen und Matten und der Gletscher so rot.

 

Doch das ist nicht das Ende. Denn die Zukunft von F07 heisst Unsterblichkeit. Zurzeit liegt sie in einem Tiefkühler am Institut für Fisch- und Wildtiergesundheit der Universität Bern. «Alle tot aufgefundenen oder erlegten Wölfe kommen zu uns», sagt Mirjam Pewsner, Ad Interim Leiterin der Wildtierabteilung. Es geht darum, etwaige Krankheiten festzustellen und den allgemeinen Gesundheitszustand der Tiere.

 

«Dass wir F07 zur Untersuchung erhalten haben, ist für uns alle sehr spannend. Denn wir kriegen nur selten ältere Wölfe. Meist ziehen sie sich zum Sterben in eine einsame Gegend zurück», sagt Pewsner. 

 

Auf dem Plan steht erst eine Röntgenaufnahme des ganzen Tiers. Ob F07 Arthrose hatte, wird man auf diesen Bildern erkennen können. Danach folgt eine Autopsie. «Hierzu eröffnen wir auch die Bauchhöhle und entnehmen Gewebeproben von allen Organen. Diese untersuchen wir auf Krankheiten», sagt Pewsner. Die Resultate werden irgendwann im Herbst erwartet. 

 

Ein paar Stücke jedes Organs kommen bei minus achtzig Grad Celsius in ein Gewebearchiv. In ihm lagern bereits die Überreste von rund hundert anderen Wölfen. Damit steht F07 auch zukünftigen Forschenden zur Verfügung. 

 

Was von ihr übrig bleibt, kommt schliesslich zu einem Tierpräparator. Dieser wird ihren Balg über einen Wolfs-Dummy aus Kunststoff ziehen. Dann sieht F07 wieder aus wie in ihren jungen Jahren – stark und gut genährt. So zurechtgemacht, wird sie dem Naturmuseum Chur einverleibt, wo sie wohl von einem Ehrenpodest ewig auf ihren Hausberg die Calanda blicken wird. 

 

Erschienen in der NZZ am Sonntag. 

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