50 000 Arten teilen mit uns den Lebensraum Schweiz. Probleme gibt es dabei unter anderem mit unserem Ordnungssinn. Der macht Tieren und Pflanzen zu schaffen.
Meine Mutter schaut kritisch, wenn der Farbton des Grases im Garten langsam von grün zu braungelb wechselt. Ich sage dann: «Bei diesem Wetter? Warten wir lieber ab, bis der Boden etwas
abtrocknet.» Doch die Gnadenfrist währt nicht lange. In der Küche wartet schon Grossmutter: «Wolltest du nicht noch den Rasen mähen gehen?» Und schon stecke ich in blauen Latzhosen und stosse
eine dröhnende Maschine vor mir her. Unter ihrem rotierenden Messer verschwinden Spinnen mit ihren eben geschlüpften Jungen, die Blütentürme des Kriechenden Günsels werden zu Konfetti gehackt und
die frisch gebauten Ameisenhaufen auf unschöne Weise abgebrochen.
Wir lieben es eben ordentlich. Nicht so die 50 000 Arten, die den Lebensraum Schweiz mit uns teilen. Die hätten ab und zu lieber etwas mehr Durcheinander. Denn unser Ordnungssinn ist einer der
Gründe, warum heute rund ein Drittel aller Tiere und Pflanzen in der Schweiz bedroht sind. Das sagt die neuste Ausgabe des Berichts «Zustand der Biodiversität in der Schweiz» vom Bundesamt für
Umwelt. Demnach wirken sich herausgeputzte Privatgärten «nachteilig» auf die Artenvielfalt aus.
Immer mehr Ergebnisse aus der Forschung untermauern diese Aussage. So zum Beispiel die nationale Hummelnest-Zählung 2007 in England, bei der 700 Freiwillige im eigenen Garten sämtliche Nester
abgesucht haben. Juliet Osborne von der landwirtschaftlichen Forschungsanstalt Rothamsted Research hat die riesige Studie geleitet. Ihr Fazit: «Gärten mit vielen unordentlichen Zonen haben in der
Regel mehr Hummeln.» Mit ihren Hecken, Zäunen und Gebüschen sind sie wichtige ökologische Nischen für die kleinen Bestäuber. «Stellen mit hohem Gras, das seit einiger Zeit nicht gemäht wurde,
sind sehr gut für sie», sagt Osborne. Und in Gras, das alt werden kann, steckt noch ganz viel mehr Leben.
Andres Overturf hat im Rahmen seiner Masterarbeit am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Zürich 21 Wiesen im Raum Tösstal, Basel und Schaffhausen untersucht. In jeder Wiese gab es
einen Streifen, den der Bauer im Herbst nicht gemäht hatte. «Hohes Gras wirkt im Winter wie eine Isolationsschicht gegen Schnee und Kälte», sagt Overturf. Er wollte wissen, ob es den Insekten
beim Überwintern tatsächlich hilft. Dazu stellte er beizeiten im Frühling in jeder Fläche Fallen auf. Sein Resultat: Die Anzahl der Insekten in den ungemähten Streifen war deutlich grösser als in
den geschnittenen. Vor allem bei den Kurzflügelkäfern war der Effekt überwältigend. In den Altgrasstreifen wimmelten im Frühjahr gleich doppelt so vielen Individuen. Gut für die Bauern, denn
diese Käferfamilie hat es besonders auf die schädlichen Blattläuse abgesehen.
Trotz dieser eindeutigen wissenschaftlichen Befunde ist in der Schweizer Landschaft der Bürstenschnitt immer noch die Regel. Ordnung muss halt einfach sein. Zwar zählt bei den Kantonen die so
genannte «Rotationsmahd», bei der Gras über Winter stehen gelassen wird, zu einer Naturschutzmassnahme, doch ihr Anteil an der gesamten Grünlandfläche dürfte unter einem Prozent liegen, wie Roman
Graf schätzt, Projektleiter des Fachbereichs Lebensräume bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach.
Weil sich solche nachteiligen Verhaltensmuster in unserem Gehirn festgesetzt haben, suchen die Wissenschaftler vermehrt gerade dort nach Erklärungen für unseren pedantischen Ordnungssinn. Mit
geschickten Experimenten sezieren sie Gehirnwindung für Gehirnwindung und fördern dabei Erstaunliches zutage. Etwa dass unsere Schmerzgrenze für Unordnung nicht von uns selbst, sondern von
unseren Nachbarn abhängt.
Das konnte Joan Nassauer von der Universität Michigan in den USA anhand einer Befragung von rund fünfhundert Hausbesitzern belegen. Dazu zeigte sie ihnen Bilder von Häusern mit unterschiedlichen
Vorgartentypen. Die Probanden mussten entscheiden, welcher ihnen am besten gefiel. Bei allein stehenden Häusern wurden wilde Gärten den ordentlichen bevorzugt. Doch sobald es in der Nachbarschaft
ebenfalls Häuser gab, wurde derjenige Garten bevorzugt, der dem des Nachbarn am ähnlichsten war. Mit anderen Worten heisst das, wenn der Nachbar dem Rasen jedes Wochenende einen Millimeterschnitt
verpasst, fühle ich mich verpflichtet, das ebenfalls zu tun. Nassauer zeigte, dass der brave Bürger und sein Garten gefangen sind wie die Salami zwischen den Brothälften. Schlechte Neuigkeiten
für die Artenvielfalt. Doch eine hiesige Studie könnte einen möglichen Ausweg aus dieser Zwickmühle weisen.
Thomas Marty, Masterstudent am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Zürich, führte eine ähnliche Bilderbefragung an 250 Schweizerinnen und Schweizern durch. Er fand heraus, dass
artenarme und langweilige Gärten generell negativ bewertet werden. Die Zustimmung steigt jedoch, umso farbenfroher, artenreicher und wilder ihr Erscheinungsbild ist. Doch irgendwann kippt die
Bewertung wieder. Gänzlich chaotische Gärten findet niemand schön.
«Die Frage ist einfach, wo ‚chaotisch’ anfängt», sagt Marty. Die Antwort: Die Grenze zwischen zulässig wild und unzulässig chaotisch ist dort, wo sich Ordnung und Unordnung gerade noch
gegenseitig umarmen. Hier liegt die Lösung zu Nassauers Nachbarschafts-Dilemma: Mut zur gepflegten Unordnung. Also in der Mitte das Brennnesselgestrüpp und rundherum einen sauber gemähten
Rasen.
Mit diesem Konzept hat Pfäffikon Zürich bereits einen Erfolg verbucht. An der Seepromenade wurde 2006 ein altes Schreinereigebäude abgerissen. An seine Stelle kamen nicht etwa neue teure
Wohnungen, sondern eine Ruderalfläche, ein Bett aus Schotter und Sand und dazwischen Pionierpflanzen, wie sie etwa in Kiesgruben zu finden sind. «Wir haben das als Begegnungsraum zwischen Natur
und Mensch gedacht», sagt Silvia Ganther, Mitglied der Natur- und Denkmalschutzkommission der Gemeinde Pfäffikon.
Nach anfänglicher Ablehnung von der Bevölkerung sei heute der Widerstand verebbt. Das dank einer Informationskampagne aber auch weil die Ruderalfläche regelmässig gepflegt wird. Ein bis zwei Mal
im Jahr drängt der Mensch das in Baumschösslingen und stacheligen Ranken aufkeimende Chaos mit Hacken und Kübeln zurück. Denn «Büsche und Brombeeren würden nicht akzeptiert werden», sagt Ganther.
Die gepflegte Unordnung hat also durchaus gute Chancen, fester Bestanteil unserer Gesellschaft zu werden. Aber dafür müssen Naturliebhaber wie ich bereit sein, ein paar Spinnenfamilien und
Ameisenhaufen am Samstagnachmittag bei Rasenmähen zu opfern.
Tipps für mehr Unordnung im eigenen Garten
- Dichte Gebüsche wachsen lassen. In ihnen finden Vögel Zuflucht vor Katzen.
- Einen Totholzhaufen anlegen. Feuersalamander und Blindschleichen benützen ihn als Wohnung.
- Nicht jedes unbekannte Kräutchen gleich ausreissen. Es könnte sich um eine bedrohte Art handeln.
- Bei jedem Rasenmähen einige Inseln oder Streifen Gras stehen lassen. Hummeln, Spinnen und Käfer lieben es.
- Den Brennnesseln ihre Nischen lassen. Sie sind Futter für ein halbes Dutzend verschiedene Schmetterlingsraupen.
Erschienen in Vivai.