Eine neue Studie zeigt, dass in der Schweiz die Überlebenschance bei Kindern mit Hirnkrebs geringer ist, wenn die Eltern ein tiefes Bildungsniveau
aufweisen.
Jährlich bekommen 45 Kinder in der Schweiz die Diagnose Hirntumor. Rund zwanzig von ihnen werden in den folgenden fünf Jahren trotz guter ärztlicher Versorgung sterben.
Das haben die Forscher für die Schweiz nicht erwartet. «Ich bin sehr überrascht und besorgt über dieses Ergebnis», sagt Michael Grotzer, Kinderonkologe am Kinderspital Zürich und Mitautor der
Studie. Solche Resultate kennt man sonst nur aus den USA und anderen Ländern, in denen die Qualität der Gesundheitsversorgung stark vom Einkommen abhängt.
Für die Studie haben die Forscher 1602 Fälle des Schweizerischen Kinderkrebsregister aus den Jahren 1991 bis 2006 untersucht. Dabei machten Hirntumore einen Fünftel der Fälle aus. Hier lag die
Überlebenswahrscheinlichkeit des Kindes im schlechtesten Fall bei nur 55 Prozent und im besten Fall bei 75 Prozent. Eine mögliche Erklärung für diese Kluft liefert der Mitautor der Studie Martin
Adam, Geschäftsleiter der Stiftung Krebsregister Aargau und Forscher am Schweizerischen Tropen- und Public Health Institut: «Eltern mit guter Bildung holen vermehrt eine Zweit- oder Drittmeinung
ein, bevor sie sich dann für die bestmögliche Therapie entscheiden. Eltern mit tieferer Bildung begnügen sich oft nur mit einer Meinung», sagt Adam. Die Zweit- und Drittmeinung kann gerade bei
seltenen Krebsarten sehr relevant sein, denn hier gibt es kaum standardisierten Abläufe. «Es gibt verschiedene mögliche Szenarien für eine Therapie», sagt Adam.
Interessant ist, dass bei häufigen Krebsarten wie etwa Leukämie die soziale Schere in der Studie nicht auftrat. Das heisst, der Bildungsstand der Eltern beeinflusste den Heilungserfolg nicht. Die
Überlebensrate lag konstant bei über 90 Prozent. «Vermutlich hat das damit zu tun, dass die Therapie einem standardisierten Protokoll folgt. Es gibt weder auf Seiten der Ärzte noch auf Seiten der
Eltern viel Spielraum für behandlungsrelevante Entscheidungen», sagt Adam.
Die Resultate dieser Studie deuten auch auf einen altbekannten Missstand bei den Kinderspitälern hin. Hirnkrebs wird trotz seiner Seltenheit und der komplizierten Behandlung immer noch an neun
verschiedenen Kinderspitälern behandelt. Wenn jedoch 45 Fälle pro Jahr auf neun Kliniken verteilt werden, können die Ärzte nur wenig Erfahrung sammeln und werden auch nicht routiniert in der
Behandlung von Hirnkrebs so wie sie es bei der Leukämie sind.
Dadurch leidet die Qualität der Behandlung. «Manche Zentren ziehen bestimmte Behandlungsformen gar nicht in Betracht», sagt Grotzer. Dazu zähle beispielsweise die Protonenbestrahlung, die
ausschliesslich am Paul Scherrer Institut (PSI) gemacht wird. Mit diesem Verfahren können insbesondere Tumore, die tief im Körper sitzen, präzise bestrahlt und abgetötet werden. Auch Hirntumore
bei Kindern werden am PSI so behandelt. «Wir wissen aus einer anonymen Erhebung, dass von den neun Zentren zwei noch gar nie dorthin zugewiesen haben. Hier gibt es bei den Ärzten offenbar
Unterschiede bei der Haltung gegenüber bestimmten Therapieformen», sagt Grotzer.
Wenn die Eltern in solchen Fällen eine Zweit- oder Drittmeinung einholen, können sie solche institutionell verursachten Nachteile wieder ausgleichen. Doch die Suche nach der bestmöglichen
Therapie sollte nicht Aufgabe der Eltern sein.
Abhilfe schaffen könnten so genannten Tumorboards. Das sind Gremien von Fachärzten, die jeden Krebsfall gemeinsam besprechen. «Im Tumorboard muss jeder Arzt seine Fälle und seine
Therapievorschläge mit seinen Kollegen diskutieren», sagt Grotzer. Auf diese Weise wird die Willkür bei der Wahl der Therapie auf ein Minimum reduziert.
Damit ein Tumorboard gut funktioniert, braucht es pro Fachgebiet mehrere Spezialisten, die möglichst viele Fälle pro Jahr diskutieren können. Darum versucht die Gesundheitspolitik schon lange,
die Spezialisten für seltene Erkrankungen in wenigen Zentren zusammenzuziehen. So hat die Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) 2009 eine interkantonale Vereinbarung zur so genannten
hochspezialisierten Medizin verabschiedet. Die Vision von ihr ist unter anderem, dass Kinder mit Hirnkrebs schweizweit zentral nur noch in drei oder zwei personell gut ausgestatteten Zentren
behandelt werden. Dadurch sollen alle Kinder die gleichen Chancen kriegen.
Das hat bei anderen seltenen Erkrankungen auch schon geklappt. Beispielsweise werden Lebertransplantationen bei Kindern seit zwanzig Jahren nur noch im Transplantationszentrum des
Universitätsspitals Genf vorgenommen.
Viele Spitäler sträuben sich jedoch dagegen, den gleichen Schritt auch bei Hirntumoren zu machen. «Es gibt Spitäler und Ärzte, die glauben, dass man ihnen etwas wegnimmt», sagt Daniel
Scheidegger, Präsident des Fachorgans für hochspezialisierte Medizin, das der GDK beratend zur Seite steht.
Immerhin hat die GDK 2013 einen kurzzeitigen Erfolg verbuchen können. Es ist ihr gelungen, die Liste der Spitäler, die für die Behandlung von Hirntumoren in Zukunft in Frage kommen, von
neun auf fünf einzudampfen. Doch kurz darauf haben das Luzerner Kantonsspital und das Ostschweizer Kinderspital, die beide nicht auf der Liste stehen, beim Bundesverwaltungsgericht Rekurs gegen
diesen Entscheid eingelegt. Das Bundesverwaltungsgericht hat ihnen 2014 Recht gegeben und ihnen erlaubt, weiterhin Kinder mit Hirntumoren zu behandeln.
«Dadurch ist alles wieder zusammengebrochen. Im Moment ist es genau so, wie vor Beginn der ganzen Anstrengungen zur Konzentration. Wir sind wieder zurück auf Feld eins», sagt Grotzer.
Und auch Scheidegger ist unzufrieden mit der Situation: «Es ist für mich persönlich frustrierend, dass bei fast allen Entscheiden sofort von Spitälern oder Ärztegruppierungen Rekurs vor dem
Bundesverwaltungsgericht gemacht wird. Der Prozess zu einer verbesserten Behandlungsqualität wird dadurch extrem verlangsamt oder gar gestoppt.»
Das Kinderspital des Luzerner Kantonsspitals sagte indes auf Anfrage: «Wir sind der Überzeugung, dass mit dem vorhandenen Ärzte- und Pflegeteam und der Organisationsstruktur die optimale
Betreuung krebskranker Kinder für die gesamte Zentralschweiz gewährleistet ist.»
Erschienen im Tages-Anzeiger.