Beat Boller züchtete drei Jahrzehnte lang im Auftrag des Bundes neue Grassorten. Nun geht er in Pension. Sein Werk wird jedoch noch lange weiter bestehen in Form von Wiesen, grünen Hügeln, Matten und übersäten Äckern.
Wenn Beat Boller ein Gras sieht, das ihm gefällt, lächelt er unweigerlich. Mit verliebtem Blick nähert er sich ihm und sagt Dinge wie: «Das sieht sehr kräftig aus. Das hat schöne breite Blätter.
Und wie aufrecht das steht.» Dann schliesst er seine Finger locker um das ganze Büschel und fährt mit der Hand langsam nach oben. Auf diese Weise ertastet er, wie sich das Gras im Maul einer Kuh
anfühlen wird. Dabei geht er sehr behutsam vor, als ob er ein wertvolles Kunstwerk vor sich hätte.
Boller leitet das einzige professionelle Gras- und Kleezüchtungsprogramm der Schweiz. Er arbeitet an der landwirtschaftlichen Forschungsanstalt Agroscope am Stadtrand von Zürich. Dort ist er Herr
über Tausende von Gräsern, die er auf ihre Leistungsfähigkeit beurteilen muss. Bei dieser Arbeit braucht es vor allem eines: Geduld. Denn bis eine neue Grassorte vor der Schnauze einer Kuh steht,
vergehen in der Regel rund zwanzig Jahre. Die Früchte von Bollers Arbeit sehen wir jeden Tag, wenn wir aus dem Fenster schauen. Grüne Hügel, Matten, Wiesen und übersäte Äcker. Das ist Bollers
Landschaftsgemälde.
Ganz am Anfang steht wie bei allen Züchtungen der Sex. Kurz bevor die Gräser zu blühen beginnen, schneidet Boller die Halme ab und stellt sie in Konfitürengläser, die mit Wasser gefüllt sind. Die
Stängel haben genug Energie in Form von Zucker gespeichert, dass sie innert weniger Tage mit Blühen beginnen. Nicht so wie Rosen oder Tulpen, sondern eben wie Gräser – unscheinbar und trotzdem
so, dass die Gesellschaft es nur zu deutlich wahrnimmt.
Boller tippt mit dem Finger an einen der Halme. Eine Wolke aus Blütenstaub löst sich lautlos und beginnt sich in der Luft zu verteilen. «Das ist der Grund, warum die Leute jetzt Heuschnupfen
kriegen», sagt er mit einem spitzbübischen Lächeln.
Weil die Luft draussen geschwängert ist mit dem Pollen anderer Grassorten, bringt Boller seine Zuchtgräser in das Abteil eines Treibhauses. So kann er sicher sein, dass die Nachkommen nur Gene
von den Eltern besitzen, die er ausgewählt hat. Die Halme stehen einen ganzen Monat im Wasser bis einige Hundert Samen reif sind. Trotz dieses Kindersegens erreichen nur wenige von ihnen das
gewünschte Anforderungsprofil.
Der Stellenbeschrieb für ein Hochleistungsgras würde in etwa so lauten: „Sie müssen einen hohen Ertrag liefern, einen hohen Energiegehalt besitzen, den Nutztieren hervorragend schmecken, gut
verdaulich sein und ausserdem weisen Sie eine hohe Resistenz gegen Krankheiten, Trockenheit und trampelnde Hufe auf.“
Um zu sehen, wer es diesem Ideal am nächsten gebracht hat, kommen die Samen aus dem Treibhaus im folgenden Jahr in Reihen zu zehn Pflanzen auf das Feld. Dort können sie zeigen, was in ihnen
steckt. Ende Mai sind viele von ihnen zu prächtigen Büscheln herangewachsen. Boller steht hüfttief in ihnen und schnallt sich eine Art mobilen Schreibtisch um den Bauch. «Das hat mein Vorgänger
erfunden», sagt er. «Damit hat man die Hände immer frei». Auf dem Schreibtisch liegt ein Ordner. Darin gibt es Blätter mit Tabellen. Jedes Feld in der Tabelle entspricht einer Pflanze. Jetzt wird
benotet oder «bonitiert», wie es unter Graszüchtern heisst.
Boller steht vor den Büscheln wie der Kommandant vor seiner Kompanie bei der Inspektion. Er tritt vor die erste Reihe und lässt seinen Blick von einer Seite zur anderen schweifen. Lange überlegen
muss er in diesem Fall nicht. «Das sieht gar nicht gut aus. Das ist alles nichts.» Dabei zeigt er auf einige kümmerlich gewachsene Gräser, die kaum bis zu seinen Knien reichen. «Das sind alles
Nuller oder Doppelnuller», sagt er. Anders als bei James Bond ist der Doppel-Null-Status keine Auszeichnung, sondern ein beinahe vernichtendes Urteil.
«Wer einmal eine Null hat, kommt meistens nicht zum Zug», sagt Boller. Das heisst, sie dürfen ihre Gene in der nächsten Paarungsrunde nicht weitergeben. In dieser frühen Phase gibt es sehr viele
Nieten. Das Hauptproblem ist die mangelnde Wuchskraft. Würde Boller das Erbgut dieser Gräser in die nächste Wiesenmischung einfliessen lassen, könnten die Bauern über die Hälfte ihrer
Futtererträge einbüssen. Das ist nur schon aus finanzieller Sicht eine Horrorvorstellung.
Boller tritt in die nächste Reihe. Er runzelt die Stirn. Hier fehlen auf einigen Reihen-Plätzen die Gräser sogar ganz. «Die sind gestorben», sagt er und markiert das entsprechende Feld in der
Tabelle mit einem kleinen Kreuz, wie bei einem Nachruf. Jetzt ist die dritte Reihe dran. Hier gibt es einige vielversprechende Kandidaten. Nummer 5, 8 und 9 sind wahre Riesen. Sattes Grün. «Die
sind schön!» Sie stehen aufrecht. Das ist ein besonders erstrebenswertes Merkmal, denn so kann die Sonne alle Blätter von oben bis unten gleichmässig bescheinen, was gut ist für die Photosynthese
und damit die für Zuckerproduktion.
Boller fährt mit der Hand durch die Büschel, wie ein stolzer Vater über das Haar seines Sohnes. «Die bekommen ein Ausrufezeichen.» Das bedeutet «gut» in der Sprache des Graszüchters. Zwei
Ausrufezeichen nebeneinander heissen «sehr gut».
Während des Frühlings und Frühsommers beurteilt Boller jedes Gras sieben Mal. Vor der Blüte muss die Gesamtnote feststehen. Danach werden von den Klassenbesten einige Halme abgeschnitten. Sie
dürfen wieder ins Treibhaus, um sich zu paaren. Auf diese Weise werden die guten Gene in den Nachkommen immer konzentrierter. Mit der Zeit verschwinden die starken Unterschiede auf dem Feld und
es beginnt sich eine neue Sorte herauszukristallisieren.
So ein Hochleistungsgras aus Bollers Zuchtgarten lässt sich nicht mehr mit einem Wildgras aus einem Naturschutzgebiet vergleichen. Die für Laien wohl auffälligste züchterische Veränderung lässt
sich am besten mit den Händen ertasten.
Um sich vor Fressfeinden zu verteidigen, haben sich gewisse Gräser im Laufe ihrer Evolution winzige Zähne aus Silizium zugelegt. Diese sind auf der ganzen Blattoberfläche verteilt und auch die
Ränder sind gesäumt mit ihnen. Sie sind so scharf, dass man sich an ihnen die Finger aufscheiden kann, wenn man mit der Hand allzu schnell über ein Blatt fährt. «Für die Kuh ist das sehr
unangenehm, wenn sie so etwas fressen muss. Darum lässt sie es stehen», sagt Boller. Aus diesem Grund hat er die Zähne in jahrzehntelanger Arbeit weggezüchtet. Für die Kuh kommt das dem
Unterschied zwischen Stacheldraht und Blattsalat gleich.
Mittlerweile seit 28 Jahren versucht Boller seine Gräser auf Höchstleistung zu trimmen. Dies ist nun seine letzte Saison. Danach geht er in den Ruhestand. «Ein bisschen wehmütig bin ich schon.»
Vor allem, weil er Gräser in allem möglichen Stadien im Zuchtgarten stehen hat und deren Vollendung nicht mehr selber miterleben wird. «Doch was ich angefangen habe, lebt weiter und wird von
jemand anderem fertig gemacht.» Dazu hat er in den letzten eineinhalb Jahren einen Nachfolger in der hohen Kunst geschult.
Könnte die Schweizer Landwirtschaft nicht ohne den ganzen Graszirkus auskommen? Boller lächelt schon wieder. «Dann wäre der Ackerbau in der Schweiz in dieser Form nicht möglich und wir wohl wären
wieder zurück im Mittelalter.» Wiesen sind ein zentraler Bestandteil der Landwirtschaft. Wenn der Boden nach drei Jahren Mais, Kartoffeln und Weizen ausgelaugt ist, wird er mit einer
Gras-Klee-Mischung übersät. Die Wiese hilft dem Acker sich zu regenerieren, bietet Schutz vor Erosion und liefert obendrein noch energiereiches Futter für die Kühe.
Daneben werden die Gräser auch auf Weiden fernab der Äcker eingesetzt. Dazu streut der Bauer die Samen einfach in die bestehenden Wiesen ein. So kann er deren Produktivität erhöhen, sie
unempfindlicher gegen Trittschäden durch Hufe machen oder sie besser an den Klimawandel anpassen.
Boller weiss, was er geleistet hat und geht mit einem guten Gefühl in den Ruhestand. «Die Kühe veredeln meine Gräser zu Fleisch und Milch. Damit steckt meine Arbeit in jedem Käse und in jedem
Joghurt.» Beim nächsten Grillabend halten wir vielleicht kurz inne und denken daran: Das saftige Steak und die knusprigen Kalbsbratwürste haben ihren Ursprung auf einem Blatt Papier, auf das Beat
Boller vor zwanzig Jahren ein Ausrufezeichen geschrieben hat.