Die fantastische Reise der Schmetterlinge

Forscher fangen auf Alpenpässen Tausende von Schmetterlingen ein und markieren sie mit Filzstift. Ihr Ziel ist es, die Wanderrouten der Insekten zu verstehen. 

Flügel-Verschönerung für die Forschung. © René Ruis
Flügel-Verschönerung für die Forschung. © René Ruis

«Pamela, links von dir!» Die Studentin Pamela Terry sieht den Falter. Sie legt einen Sprint über drei Meter hin und schwingt einen Kescher in einer sauberen Vorhand in seine Richtung. Doch der Falter ändert im letzten Moment abrupt seine Flugbahn und entgeht dem Kescher um eine Handbreite.


Was entfernt an eine Freiluftversion von Badminton erinnert, ist tatsächlich eine grosse Schmetterlings-Fangaktion, die Wissenschaftler der Universität Bern im Val d'Illiez am Westende des Wallis durchführen. Sie wollen mehr über die Reiserouten von Wanderfaltern herausfinden.

Jeden Herbst machen sich Hunderttausende von Tagfaltern aus Nordeuropa auf den Weg in den Mittelmeerraum, um der Winterkälte zu entrinnen. Unter ihnen findet sich der Admiral, der Distelfalter oder die Weisslinge.

«Weltweit bilden Wanderinsekten eine sehr grosse Biomasse, die in Bewegung ist», sagt Myles Menz von der Gruppe Synökologie an der Universität Bern. «Das hat Einfluss auf andere Tiere wie etwa die Fledermäuse, die sie als Nahrungsquelle nutzen können. Die Insekten können aber auch als Landwirtschaftsschädlinge auftreten, wie beispielsweise die Wanderheuschrecken in Afrika. Wenn wir mehr über Insekten-Züge und Wanderrouten wissen, lassen sich Vorhersagemodelle entwickeln, mit denen beispielsweise Landwirte frühzeitig vor Schädlingen gewarnt werden können.»

Das Val d’Illiez am Südwestende des Wallis ist eine wichtige Durchgangsroute für Wanderfalter. © René Ruis
Das Val d’Illiez am Südwestende des Wallis ist eine wichtige Durchgangsroute für Wanderfalter. © René Ruis

Von den Tagfaltern weiss man bislang nur, dass eine grosse Zahl von ihnen hier durch das Val d’Illiez fliegt. Von steilen Felswänden flankiert, fungiert das Tal als natürlicher Trichter. Dieser leitet jeglichen tierischen Flugverkehr auf knapp zweitausend Metern über Meer über den Pass Col de Bretolet nach Frankreich. Unter Ornithologen ist das Tal schon lange als Luftverkehrsstrasse für Zugvögel bekannt. Nun sollen hier zum ersten Mal auch wandernde Tagfalter systematisch erforscht werden.


Insbesondere interessiert sich Menz für den Admiral. «Er ist der auffälligste tagaktive Wanderfalter Europas und lässt sich darum sehr gut beobachten», sagt er.

Der Admiral ist eigentlich ein Südländer, der jedes Frühjahr auf der Suche nach Futterpflanzen für seine Raupen aus dem Mittelmeerraum bis nach Skandinavien zieht. Es ist eine Reise, die sich über mehrere Generationen hinzieht. Im Herbst fliegen die Ur-Ur-Ur-Enkel dann wieder zurück zum Mittelmeer, wo sie sich Generation für Generation weitervermehren bis im Frühjahr wieder die Zeit des Aufbruchs gekommen ist.

Um seine Flugroute zu rekonstruieren, gibt es dreissig Kilometer nördlich am Col de la Croix im Kanton Waadt eine zweite Gruppe von Schmetterlingsfängern. Sie markiert den ganzen Tag Tausende von Tieren mit Filzstift und lässt sie anschliessend wieder frei. Menz und seine Mitarbeiter versuchen nun, diese gekennzeichneten Falter wieder einzufangen.

Damit das klappt, haben Menz und seine Leute am Col de Bretolet auf einer Länge von sechzig Metern ein feinmaschiges Netz gespannt. Seine Funktion ist es, die mit rund dreissig Kilometern pro Stunde herannahenden Schmetterlinge zu verlangsamen. Die Tiere nehmen das Netz bereits aus einigen Metern Entfernung als Hindernis wahr und bremsen ihren Flug ab. Das ist die Chance für die Forscher.

Marco Thoma und Myles Menz hoffen bei jedem gefangenen Falter, dass es ein Wiederfang ist. © René Ruis
Marco Thoma und Myles Menz hoffen bei jedem gefangenen Falter, dass es ein Wiederfang ist. © René Ruis

Inzwischen ist der Kescher von Menz ziemlich voll. Mit einer Hand greift er hinein und zieht den ersten Schmetterling heraus. Dabei fasst er ihn nicht an den Flügeln, sondern vorsichtig am Körper. «Wie fett sie sind», sagt er. Wanderfalter legen sich während des Sommers ein Fettpolster an, um genug Energie für die lange Reise zu haben.

Mit dem Daumen der zweiten Hand öffnet Menz nun behutsam die Flügel des Admirals. «Es ist jedes Mal, als ob man ein Tombola-Los aufmacht», sagt er. Der erste Preis ist ein Wiederfang eines markierten Admirals vom Col de la Croix. Doch Menz hat kein Glück. Es sind alles «Nieten». «In der Regel rechnet man mit einem Wiederfang pro Tausend markierten Tieren», sagt er.

Jeden Falter bemalt er nun seinerseits mit einem orangen Punkt auf dem linken Flügel. Das steht für das heutige Datum. Auf dem rechten Flügel bekommt er einen grünen Punkt. Der steht für den Ort. Dann wirft er den Schmetterling in die Luft und der Falter entschwindet in wenigen Sekunden im stahlblauen Himmel.

Nach der Markierung werden die Falter wieder freigelassen in der Hoffnung, dass jemand im Mittelmeerraum sie erneut sichtet. © René Ruis
Nach der Markierung werden die Falter wieder freigelassen in der Hoffnung, dass jemand im Mittelmeerraum sie erneut sichtet. © René Ruis

Weiter südwärts wartet zwar keine weitere Forschergruppe mit Keschern auf sie, dafür aber gibt es Tausende von Schmetterlingsliebhabern, die in ihrer Freizeit mit einer Kamera oder dem Smartphone Faltern nachstellen und jede Beobachtung auf entsprechenden Webportalen melden. Vernetzt sind sie untereinander via Twitter und Facebook. Über diese Kanäle lassen sie sich auch mobilisieren.

Das übernimmt Marco Thoma, der im Rahmen seiner Doktorarbeit die Wanderung des Admirals erforscht. Am Ende der zweitägigen Fangaktion schreibt er auf Twitter: «7000 Admirale wurden in der Schweiz markiert. Sie bewegen sich nun südwärts. Bitte meldet Sichtungen.»
«Es ist das erste Mal, dass wir die Öffentlichkeit bei unserer Forschung miteinbeziehen», sagt Thoma. Die Idee stammt aus den USA. Dort hat man mit dieser Methode die Reiserouten des Monarchfalters rekonstruieren können.

Es ist jetzt später Nachmittag, aber bisher ging noch kein markierter Falter ins Netz. «Ich hab einen!», ruft plötzlich Pamela Terry. In ihrem Kescher flattert ein markierter Schmetterling vom Col de la Croix. Es ist ein Sechser im Lotto und eine wissenschaftliche Sensation. «Damit haben wir ein erstes Teilstück der Flugroute des Admirals nachgewiesen», sagt Menz. Bis zum Abend machen die Forscher noch vier weitere Fänge von markierten Faltern.

Die freiwilligen Schmetterlingsjäger in Frankreich und Spanien haben nun zwei Monate Zeit, in Avignon, Toulouse, Saragossa oder einem anderen Ort einen markierten Falter zu entdecken. Danach sterben die Tiere. «Jede Sichtung bedeutet einen weiteren Datenpunkt auf unserer Wanderkarte der Schmetterlinge», sagt Menz.

Wissenschaftsjournalist auf Schmetterlingsjagd: Atlant Bieri während seiner Recherche. © René Ruis
Wissenschaftsjournalist auf Schmetterlingsjagd: Atlant Bieri während seiner Recherche. © René Ruis

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