Vergesst die afrikanische Savanne, streicht die Antarktis von eurer Bucket List und löscht den Amazonas Regenwald aus eurer Ferienplanung. Wer einen Schritt in den Garten macht und sich auf eine Körpergrösse von sechs Millimetern schrumpft, erlebt das Abenteuer seines Lebens gleich vor der eigenen Haustür.
Mit einem mulmigen Gefühl schaue ich auf die kleine Sprühflasche in meiner Hand. «Schrumpf-Faktor 300» steht in roter Warnschrift. Wenn ich mich damit eingenebelt habe, verkleinere ich mich für genau eine Stunde auf eine Körpergrösse von sechs Millimetern. Mein Ticket zur fantastischsten Safari der Welt – eine Safari durch den Dschungel in der obersten Bodenschicht.
Die ganze Woche habe ich mit dem Zusammentragen und Packen meiner Ausrüstung verbracht. Die Welt unter Moospolster und Gänseblümchen ist weitaus gefährlicher als die wildeste Ecke des Amazonas Regenwaldes. Damit ich mich trotzdem sicher bewegen kann, trage ich folgende Schutzausrüstung: Einen Eishockey-Helm, Arbeitshandschuhe aus Leder, Knie- und Schienbeinschoner sowie einen Wirbelsäulenschutz aus dem Ski-Bedarf. Mein Rucksack enthält neben einer Flasche Wasser und einer Tafel Schokolade auch ein halbes Dutzend Hundeleinen und ein Fläschchen Pfefferminzöl.
Es kann los gehen! Auf einer weichen Stelle im Vorgarten stelle ich mich hin und spraye mich und meine Ausrüstung ein. Sofort scheint die Welt um mich herum in die Höhe zu wachsen. Es ist aber nur eine optische Täuschung, denn tatsächlich werde ich kleiner. Das Moos steht mir bald bis zum Hals und kurz darauf ragt es hoch über mir in den Himmel.
Nach meiner Schrumpfung erkenne ich den Garten nicht wieder. Hier sieht es aus wie nach einem Erdbeben. Blattstücke und Reste von Pflanzen liegen wie Bauschutt aus einem abgebrochenen Haus kreuz und quer. Wenn ich über diese «Trümmer» klettere, rutschen sie eigenartigerweise nicht weg. Alles ist mit einer Art Leim überzogen. Das ist das Werk von Bakterien und Pilzen. Mit ihren Ausscheidungen stabilisieren sie den Oberboden.
Meine Überlegungen zur Statik der Streuschicht werden unterbrochen, als ich eine Art Hangar erreiche. Es ist ein Stück Baumrinde. Feuchte, kalte Luft strömt unter ihr hervor. Ich schalte die Taschenlampe ein und folge dem Lichtkegel in die Dunkelheit.
Die Wände sind mit einem dünnen Wasserfilm überzogen. Pilzfäden hängen wie Kronleuchter von der Decke herab. Nach ein paar Metern höre ich etwas rumoren. Es tönt wie ein Panzer, der genau auf mich zu rast. Und es sieht auch genauso aus. Asseln. Das Licht meiner Lampe hat sie wohl aufgeschreckt. Ich will gerade zur Seite springen, sehe dann aber, dass sie an der Decke kopfüber an mir vorbei dribbeln.
Im selben Moment schlägt mir ein fürchterlicher Gestank entgegen. Es riecht nach hundert Schweineställen gleichzeitig. Asseln besitzen ein legendäres und sehr gewöhnungsbedürftiges Körperparfüm, denn sie schwitzen ihren Urin beständig über die Haut aus. Einer ihrer Spitznamen in England ist «sow bug» (Schweinekäfer) und in den Niederlanden nennt man sie offiziell «Pissebedden» (Pissbetten). Im Rucksack grabe ich nach dem Fläschchen mit Pfefferminzöl und streiche mir ein paar Tropfen unter die Nase. Bloss weg von hier.
Vor mir tut sich ein verzweigtes Höhlensystem auf, das tiefer hinab in den Boden führt. Ich prüfe den Sitz meines Eishockey-Helms und schreite voran. Mir ist etwas bang zu Mute aber zu meiner Überraschung entdecke ich nach kurzer Zeit etwas ganz und gar Ungefährliches und zugleich Wunderschönes. An den Wänden erscheinen leuchtend orange Pusteln. Manche sind winzig, andere gross wie Bettdecken. Sie sehen aus wie Kunstwerke; als würde ich durch eine unterirdische Galerie spazieren. Sie fühlen sich weich an. Das sind Schleimpilze. Ich tätschle jeden beim Vorbeigehen und stelle mir vor, ich hätte in meinem Wohnzimmer eine ganze Sitzlounge aus ihnen.
Noch während ich über meine neuen Bio-Möbel nachdenke, kracht mir plötzlich etwas in der Magengrube. Der Schmerz zwingt mich in die Knie. Und im nächsten Moment bekomme ich einen Schlag an den Kopf. Der Helm gibt einen glockenartigen Ton von sich und die Wucht des Aufpralls wirft mich flach auf den Boden. Damit habe ich früher oder später gerechnet. Abgelenkt von den Schleimpilzen bin ich mitten in eine Gruppe Springschwänze gestrauchelt.
Sie sind etwa so gross wie Dackel und im Grunde harmlose Vegetarier. Doch sie haben die unangenehme Gewohnheit, ohne Vorwarnung und völlig unkontrolliert davonzuhüpfen. Dazu verwenden sie ihre Springgabel, die wie eine ständig gespannte Stahlfeder unter ihrem Körper eingerastet ist. Mit dieser können sie sich so schnell vom Untergrund abstossen, dass das menschliche Auge den Springschwanz erst wieder sieht, wenn er auf dem Boden aufschlägt oder eben in einen ahnungslosen Fussgänger kracht.
Springschwänze zählen neben den Regenwürmern zu den wichtigsten Zersetzern von abgestorbenem Pflanzenmaterial. Pro Quadratmeter können bis zu 100 000 von ihnen den Boden besiedeln. Die Herde, in die ich hineingetappt bin, ist zum Glück nicht so gross. Vorsichtig krieche ich auf allen Vieren an ihr vorbei, um bloss keinen weiteren aufzuschrecken.
Nach ein paar Metern öffnet sich der Gang vor mir in eine riesige Kammer. Mir stockt der Atem: Der Grund und die Wände sind übersät mit Springschwänzen. Ein unüberwindbares Mienenfeld. Ich möchte gerade umkehren, doch da spaziert mir einer der Kerle über den Fuss und ich sehe zu meiner Erleichterung, dass es sich um einen Springschwanz der Gattung Folsomia handelt. Deren Springgabel hat sich zurückgebildet, weil sie eine bessere Methode der Verteidigung besitzen. Eine, die ich mir zunutze machen will.
Schnell öffne ich meinen Rucksack und nehme die Hundeleinen daraus hervor. Mit wenigen Handgriffen lege ich sie ein paar besonders grossen Exemplaren um. Sie sind von jetzt an meine Bodyguards. Folsomia-Springschwänze schwitzen verschiedene Substanzen aus, die ihre Fressfeinde abstossend finden. Ja, manchmal sind sie sogar giftig und töten jeden Räuber, der sich an ihnen vergreift. Darum werden sie von Fressfeinden gemieden. Einen von ihnen möchte ich heute unbedingt noch zu Gesicht bekommen.
Durch einen Seitengang verabschieden wir uns von der Kammer. Meine Schutzpatrone gehen mit ihren Stummelbeinchen eifrig voran. Der Gang, durch den wir uns jetzt bewegen, besitzt seltsame, völlig glatt gestrichene Wände. Sie fühlen sich irgendwie schleimig an, riechen aber angenehm nach Erde. Nach einigen Minuten kommen wir an eine Stelle, an der sich unser Gang mit einem zweiten kreuzt. Genau in der Mitte bleibe ich stehen und lausche, während die Springschwänze nervös mit ihren Antennen gestikulieren. Aus dem Gang rechts von mir ertönt ein leises Schlürfen, das schnell lauter wird.
Zu spät verstehe ich, was Sache ist. Ein Regenwurm so gross wie eine S-Bahn schiesst aus dem Tunnel genau auf uns zu. Sein zugespitztes Vorderteil verfehlt uns zwar knapp aber sein Körper, der fast die ganze Breite des Tunnels einnimmt, reisst uns mit. Die Springschwänze und ich bleiben auf seiner schleimig-klebrigen Haut wie Briefmarken haften und werden mitgerissen. Es ist ein Höllenritt. Der Wurm kriecht vorwärts, indem er sich an der Wand abstösst. Das funktioniert, weil alle paar Meter im Takt seiner Bewegungen ein Kranz aus Dornen aus seiner Haut herausschiesst. Genau darum habe ich meine Gartenhandschuhe und meine Körperpanzerung angezogen – weil hier unten alles mit Stacheln und Dornen versehrt ist. Ich hänge indes hilflos mit meinem Rücken am Wurm fest und werde die Tunnelwand entlanggeschleift. Jetzt weiss ich, wie sich ein Pflug fühlt.
Einer der Dornen hat mich in der Wade erwischt. Ein Blutfleck breitet sich auf meiner Hose aus. Weit oben beginnt Tageslicht durch die Dunkelheit zu schimmern. Ich drehe mich zu den Springschwänzen um und rufe ihnen zu: «Haltet durch, wir sind gleich draussen!» Sobald wir im Freien sind, halte ich mich am nächsten Pflanzenstängel fest und reisse mich vom Wurm los.
Die Springschwänze im Schlepptau flüchte ich sofort zwischen ein paar Erdkrümel, die so gross wie Findlinge sind. Ich sehe gerade noch, wie der Regenwurm mit seinem Mund ein gefallenes Blatt schnappt und es in seinen Tunnel hinab zerrt. Dann wird es totenstill. Mit dem Wasser aus meiner Trinkflasche reinige ich die Springschwänze notdürftig. Wir sehen aus als hätten wir ein Schlammbad genommen.
Dann stockt mir der Atem. Zwei gewaltigen Scheren schieben sich aus dem Schatten eines Kiesels. Er ist hier. Der Pseudoskorpion. König des Boden-Dschungels. Herrscher über das Reich der Erdkrume. Seine Scheren sind auf der Innenseite mit Giftdornen bestückt. Das Gift lähmt innert Sekunden. Danach rammt er seine Schnauze in sein Opfer, injiziert eine Chemikalie, welche dessen Zellen auflöst und saugt es danach wie eine Kokosnuss aus.
Der formidable Jäger ist nur noch ein paar Meter von uns entfernt. Seine Augen sind zwar viel zu schlecht, als dass er mich erkennen könnte. Aber er weiss trotzdem, dass ich da bin. Meine Bewegungen und mein Atem erzeugen winzige Luftströme, welche der Pseudoskorpion mit langen Sinneshaaren auf seinen Scheren wahrnimmt. Er weiss auch, dass ich von Folsomia-Springschwänzen umzingelt bin. Sie sondern ein Parfüm ab, das er nicht ausstehen kann. Zu meinem Schrecken kommt er trotzdem immer näher. Es kann natürlich sein, dass er ausgehungert ist und sich auch mit einem stinkenden Mahl zufriedengeben würde. Seine acht Beine bewegen sich wie die Kolben eines Sportwagens in schneller Folge auf und ab und schon steht er noch zwei Armlängen von mir weg. Er öffnet seine linke Schere; der Giftdorn darin blitzt auf. Meine Uhr gibt ein schwaches Piepsen von sich. Die Stunde ist um! Noch während der Pseudoskorpion mit seiner Schere nach mir schnappt, schrumpft der Mooswald unter mir zusammen. Gerettet. Sechs leere Hundeleinen hängen in meiner Hand als ich braun vor Dreck und schweissnass aus dem Garten trete.
Wer noch tiefer in die wunderbare Welt unter unseren Füssen eintauchen möchte, kann dies mit unserem Sach-Bilderbuch «Der Dschungel im Boden».
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