Die «Grotte de Milandre» in der Westschweiz ist eine der am besten untersuchten Höhlen weltweit. Ihre Stalagmiten sind ein natürliches Klimaarchiv, das Auskunft über vergangene und zukünftige Umweltveränderungen geben kann.
Die verrostete Eisentür steht einsam und deplatziert im Wald. Sie öffnet sich zu einem betonierten Gang mit einer Treppe, die steil nach unten führt. Für einen Laien sieht es aus wie die Pforte zur Hölle. Für die Geochemikerin und Klimawissenschaftlerin Franziska Lechleitner der Universität Bern ist es das Tor zu einer Schatzkammer des Wissens.
Dieses auf den ersten Blick furchterregende Loch trägt den Namen «Grotte de Milandre». Es ist die am besten untersuchte Tropfstein-Höhle Europas. Sie befindet sich ausserhalb von Boncourt am äussersten Nordwestzipfel der Schweiz. In ihren Stalagmiten – das sind die Tropfsteine, die von unten nach oben wachsen – ist die Klimageschichte der letzten 100 000 Jahre gespeichert. «Ich versuche die Informationen aus dem Stein herauszuholen und so das Klima der Vergangenheit zu rekonstruieren», sagt Lechleitner. «Das hilft uns letztlich auch zu verstehen, welche Umweltveränderungen mit der gegenwärtigen Klimaveränderung auf uns zukommen.»
Doch die Höhle gibt ihre Geheimnisse nicht freiwillig preis. Mit Helm, Stirnlampe und einem wasserdichten Anzug zwängt sich Lechleitner auf allen Vieren durch Gänge, die nur knapp einen halben Meter hoch sind. Der Untergrund besteht aus reinem Lehm, der mit dem Tropfwasser eine schmierseifenartige Konsistenz bekommt. Der braune Anstrich von Kopf bis Fuss gehört zu ihrer Forschungsarbeit quasi gratis dazu.
Dabei ist das noch das Harmloseste. Denn Höhlen sind potenziell gefährliche Arbeitsplätze. Wer auf den glitschigen Steinen ausrutscht und sich das Bein bricht, strandet hier unten. Dann ist eine ausgedehnte Rettungsaktion mit Dutzenden von Helfern nötig, wenn man das Tageslicht wiedersehen will.
Darum befindet sich Lechleitner in Begleitung ihrer Doktorandin Sarah Rowan, die Klimawissenschaften studiert, sowie Marc Luetscher, Paläoklimatologe beim Schweizerisches Institut für Speläologie und Karstforschung SISKA. Er koordiniert die Forschungsaktivitäten von verschiedenen Hochschulen hier unten. Er hat sich ein CO2-Warngerät angesteckt. «Das Gas kann manchmal schnell ansteigen. Bei zwei Prozent müssen wir raus. Ab drei Prozent wird es lebensbedrohlich», sagt er. Im Moment ist aber alles noch im grünen Bereich.
Chemischer Fingerabdruck im Wassertropfen
In der Mission von heute geht es darum, Wasser- und Luftproben zu sammeln. Nach einer Viertelstunde erreicht Lechleitner einen kleinen Tropfstein von der Grösse eines Schweineschwänzchens. Von dessen Spitze löst sich im Sekundentakt ein Wassertropfen. Sie hält das Probenröhrchen darunter und macht es voll. «Dieses Wasser enthält den chemischen Fingerabdruck der heutigen Umwelt», sagt sie.
Um das zu verstehen, muss man sich den Werdegang eines Tropfens vergegenwärtigen: Er entsteht in einer Wolke, wächst, wird schwerer und fällt schliesslich aus ihr heraus. Auf seinem Weg nach unten nimmt er Kohlendioxid aus der Atmosphäre auf. Ein Teil davon bleibt als Gas in ihm gelöst. Ein anderer wandelt sich zu Kohlensäure um. Schliesslich klatscht er auf den Boden und sickert durch die Erde.
Aus der Atmungsaktivität von Pflanzenwurzeln, Bakterien, Pilzen, Würmern und anderen Bodenlebewesen kommt weiteres Kohlendioxid dazu. Noch etwas mehr Kohlensäure bildet sich im Tropfen. Dann erreicht er das Grundgestein, den Jurakalk. «Die Säure reagiert mit dem Kalk und löst ihn auf. Durch diesen Prozess ist diese Höhle überhaupt erst entstanden», sagt Lechleitner. Schliesslich sickert der Tropfen durch einen der unzähligen Risse im Gestein in das Höhleninnere, rutscht erst über den Stalaktit an der Decke und landet danach auf den Stalagmit darunter. Dort fällt der gelöste Kalk aus. Damit wird der während der Reise gesammelte Kohlenstoff zu Stein.
Ein Ballon voll Luft
Inzwischen macht sich die Doktorandin Rowan an einem länglichen Ballon zu schaffen. Die erste Luftprobe ist fällig. Sie kniet in einem schmalen Stollen. Hier weht eine milde Brise. Diese kommt zustande, weil die zehn Grad warme Luft in der Höhle aufsteigt wie in einem Kamin. Von aussen fliesst null Grad kalte Winterluft nach.
Rowan hängt den Ballon an einen Schlauch an, der ein paar Meter von ihr wegführt. «Ich will die eingesammelte Luft nicht mit meiner Atemluft kontaminieren», erklärt sie ihr Vorgehen. Als zusätzliche Vorsichtsmassnahme steht sie windabwärts, während sie die Probe nimmt. Fünf Liter haben im Ballon Platz. Er besteht aus einem dicken Kunststoff, damit er die Reise zurück an die Oberfläche übersteht.
Das Gas-Warngerät beginnt zu heulen. Der CO2-Gehalt hat 1.7 Prozent erreicht. Das ist bereits über vierzig Mal so viel wie in der Aussenluft.
Auch die Höhlenluft beeinflusst die chemische Zusammensetzung des Wassertropfens. Später werden die Forscherinnen ausserhalb der Höhle weitere Wasser- und Luftproben aus dem Boden und dem Jurakalk nehmen. «Die Proben können wir im Labor vergleichen. So wissen wir, was mit Luft und Wasser chemisch auf dem Weg in die Höhle passiert», sagt Lechleitner.
Kohlenstoff zeigt Alter an
Dabei ist sie vor allem am Kohlenstoff interessiert. Ein Teil von ihm besteht aus dem radioaktiven C14 Kohlenstoff-Isotop. Dieses wird in der Archäologie oft für Datierungen verwendet. Es bildet sich in der oberen Atmosphäre durch die Einwirkung von kosmischer Strahlung. Eingelagert in Holz, Kalk, Knochen oder anderen Naturalien, zerfällt es innert 50 000 Jahren, bis nichts mehr von ihm übrig ist. Damit ist es wie eine natürliche Sanduhr, die das Alter von Gegenständen anzeigt. Landet der Tropfen auf einem Stalagmit, fällt der in ihm gelöste Kalk aus und wird Teil des Steins. «Durch die C14 Analyse können wir das Alter des Kohlenstoffs im Stalagmit in verschiedenen Wachstumsphasen bestimmen», sagt Lechleitner.
Das alleine sagt aber noch nichts über das Klima aus. «Darum halten wir nach zeitlichen Anomalien Ausschau.» Und die gibt es reichlich, denn das mit C14 ermittelte Alter eines Stalagmits erscheint immer älter als sein wahres Alter. Lechleitner weiss das, weil sie das Alter der Tropfsteine auch noch mit anderen Verfahren misst. Diese basieren auf dem Zerfall von Uran und Thorium. Sie hat also zwei Sanduhren, die sie miteinander vergleichen kann.
Die Unterschiede zwischen den beiden Altersbestimmungen haben etwas mit dem Klima in der jeweiligen Epoche zu tun. «Wenn das Klima eher kühl war, dann verweilte der Kohlenstoff länger im Kreislauf der Natur, bevor es im Stein eingelagert wurde.» Man stelle sich eine Eislandschaft vor, in der das Wasser nur sporadisch abschmelzt und im Boden versickert. «Während dieser Zeit baut sich das C14 fortwährend ab», erklärt Lechleitner. Es wird am Ende also weniger C14 im Stalagmit eingelagert und dieser erscheint darum «älter». «Bei wärmerem Klima versickert das Wasser schneller und das C14 wird schon nach ein paar Tagen im Tropfstein eingebaut.» Hier stimmen die beiden Sanduhren also besser überein.
Im Moment ist die Ummünzung von Messungen auf den Zustand vergangener Ökosysteme noch ziemlich vage. «Darum nehmen wir Wasser- und Luftproben. Wir vergleichen die Messwerte mit den Klimadaten von heute und sehen so, wie Klima und Wasser-Chemie zusammenhängen.»
Das Gas-Warngerät beginnt zu heulen. Der CO2-Gehalt hat 1.7 Prozent erreicht. Das ist bereits über vierzig Mal so viel wie in der Aussenluft. «Das geht noch», meint Luetscher trocken. Der Alarm ist eine Erinnerung daran, dass die Arbeit hier unten gefährlich ist, und man den Kopf bei der Sache haben muss.
Gesteinsproben werden heute keine genommen. Hier ist ohnehin Zurückhaltung geboten. «Das Thema Stalagmiten-Beprobung ist hochemotional. Viele sagen, man soll bloss nichts beschädigen», sagt Luetscher. Rechtlich bewege man sich hier in einer Grauzone. Steine haben heute noch kaum Rechte. Wer einen Stalagmit beproben möchte, muss das nicht vor eine Ethikkommission bringen. Diese kommt nur bei lebenden Organismen zum Zug. «Zurzeit werden in verschiedenen Kantonen juristische Grundlagen dazu formuliert, damit Höhlen und andere geologische Aufschlüsse besser geschützt sind» sagt Luetscher.
Lechleitner ergänzt: «Es gibt generell zu wenig Bewusstsein dafür, dass dies schützenswerte Orte sind. Wir machen hier etwas kaputt, das Tausende von Jahren brauchte, um zu wachsen.»
Sie selbst hat für ihre Arbeit bereits einmal einen kleinen Stalagmit abgebrochen. Das ist unumgänglich, wenn man Altersbestimmungen durchführen möchte. Aufwändig ist die Entnahme von Stalagmiten nicht. Man benötigt dazu lediglich einen Hammer und einen Meissel. «Wir versuchen immer, so wenig wie möglich zu sammeln.»
Es gehe auch darum, dieses in Stein angelegte Archiv des Wissens für zukünftige Generationen von Forschenden zu erhalten. Denn eines Tages lässt sich vielleicht noch viel mehr aus dem Stein herauslesen als nur das Klima längst vergangener Zeiten.
Erschienen im Magazin Horizonte.